Das Wunder der letzten Minute

20:10. "Nimm dein Handy mit ins Schlafzimmer - falls was sein sollte!" ruft Barbara mir nach. Aber was sollte schon sein? Es ist doch alles geplant. Voller Vorfreude fahre ich heim. Vor 2 Stunden hatte meine Schwester ihren Blasensprung. Der Kaiserschnitt ist morgen früh und ich darf dabei sein.

 

1:24. Mein Handy läutet - Barbara ruft an. Oh! Aber, es ist doch mitten in der Nacht. "Du musst JETZT kommen," sagt sie. "Die Wehen sind so stark, die Ärzte warten nicht mehr länger." Ich bin hellwach! Soviel zum Plan vor ein paar Stunden.

 

1:47. Ein Parkplatz vor dem Spital ist frei. Während ich zum Eingang sprinte, frage ich mich, wie ich die Strecke in weniger als 20 min geschafft habe. Es hat wohl seine Vorteile, nachts mit dem Auto unterwegs zu sein. Keine anderen Verkehrsteilnehmer, keine Kontrollen. Ich erreiche den Lift. Verdammt, in welchem Stock liegt sie? Ach ja, 4. Stock. Wo ist die Stationsschwester?

 

1:52. Wie? Sie ist nicht mehr im Zimmer? Runter in den 2. Stock? Schon im OP?!

 

1:57. Von einem Ende ans andere laufe ich die 2. Etage ab. Wieso ist hier niemand? Wo ist meine Schwester? Und dann sehe ich sie: die große Tür mit der Aufschrift "OP". Soll ich...ja, ich soll! Ich drücke den Öffner an der Wand und tatsächlich - sie öffnet sich. Wo bin ich?! Ich stehe in einem kleinen Vorraum. Kleidung hängt an den Wänden, Schuhe stehen da. Vor mir eine weitere Schiebetür. Auch sie öffnet sich, nachdem ich den Knopf an der Wand drücke. Wow - der OP-Saal ist riesig!

 

2:01. Acht Augenpaare starren mich an, genau so entsetzt wie ich: Wie konnte ich so leicht bis in den OP gelangen?! "Wer sind Sie?!" schreit einer. Verwirrt bleibe ich stehen. "Sie sind die Schwester, richtig?" Eine Frau kommt auf mich zu, schnappt meine Hand und zerrt mich in den Raum nebenan. "Wir müssen uns beeilen!" Hektisch reicht sie mir OP-Kleidung, Mundschutz und Haube.

 

2:03. "Gottseidank bist du da," begrüßt mich Barbara, "wir haben auf dich gewartet." Ich setze mich zu ihr ans Kopfende des OP-Tisches und lege meine Hand an ihr Gesicht. Ja, auch ich danke Gott.

 

2:04. Sie ist da! Ich bin Tante! Ganz kurz nur zeigen sie meiner Schwester ihr kleines Wunder, um sie dann zur Erstuntersuchung rauszubringen. "Geh mit ," flüstert meine Schwester mit Freudentränen in den Augen. Mit einem Kuss auf ihre Stirn versichere ich ihr, dass ich die Kleine nicht alleine lassen werde und laufe hinterher.

 

2:09. Mit der kleinen Larissa in meinen Armen sitze ich überglücklich auf der Babystation. Ihre großen Augen blicken mich neugierig an. Vermutlich fragt sie sich, warum ihre Tante weint. Ich bin überwältigt, dankbar und sprachlos. Ich halte ein Wunder in den Armen!

 

An diese ersten Minuten im Leben meiner kleinen Nichte werde ich mich immer erinnern. Ich durfte sie auf dieser Welt willkommen heißen. Diese innige Verbundenheit zu ihr, die ich in diesen Minuten schon spürte, hält immer noch an. Heute ist sie 7. Und ich freue mich darauf, ihr bald diese ganz besondere Geschichte rund um ihre Geburt zu erzählen.